Max Peiffer Watenphul

Erinnerungen an Paul Klee

[Venedig 1949]

Als ich als ganz junger Student im Jahre 1915 eine Ausstellung der Kunsthandlung Goltz besuchte, fielen mir dort Zeichnungen auf, wie ich sie bisher nie im Leben gesehen hatte. Sie sahen von weitem aus wie kindliche Kritzeleien oder Muster, wie man sie oft auf Wänden und Martern von Laien hingesetzt sieht. Die kleinen Zeichnungen faszinierten mich derartig, daß ich fast jeden Tag in die Galerie Goltz ging und wie gebannt vor ihnen stand. Es war dies meine erste Begegnung mit dem Werk von Paul Klee.

Ich hätte sehr gern Näheres über diesen merkwürdigen Künstler gewußt, aber ich war zu jung und zu scheu, um ihn zu besuchen und seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Aber ich verfolgte mit brennendem Interesse alles, was ich über ihn erfahren konnte, und vor allem bemühte ich mich, mehr von seinen Arbeiten zu sehen. Das war in jener Zeit nicht einfach, denn fast niemand nahm diese Gebilde sehr ernst. Man konnte sie eigentlich nur bei Goltz in München, im Sturm in Berlin und in den Ausstellungen der neuen Secession in München sehen. Und die meisten Kunstfreunde und Sammler sahen in den Gebilden, die Paul Klee formte, nur die schrulligen Experimente eines versponnenen Eigenbrödlers, die mit Kunst überhaupt nichts zu tun hatten und über die man nur lächeln konnte. Es waren nur sehr wenige Menschen, die in den Arbeiten von Klee die Entdeckung einer völlig neuen Welt und ganz neuer Regionen für die Kunst sahen und an ihn glaubten.

Ich habe Klee dann erst im Jahre 1919 kennengelernt durch die Vermittlung von Lotte Pritzel, die damals in Schwabing mit ihren ganz neuartigen Wachspuppen sehr viel Erfolg hatte. Sehr genau erinnere ich mich an meinen ersten Besuch gegen Abend in seiner Schwabinger Wohnung. Und was mir in der sehr bürgerlichen Einrichtung am meisten auffiel, war ein Vertiko mit sehr merkwürdigen Gebilden aus buntem altem Gips: Versuche Paul Klees, Plastiken zu formen. Hier war es also, daß ich diesem großen Künstler zum ersten Mal bewußt begegnete.

Es ist ja viel über Klee als Künstler und als Mensch geschrieben worden, und so kann man eigentlich als bekannt voraussetzen, wie Klees äußere Erscheinung war. Wir wissen, daß er durch seine Mutter südfranzösisches Blut hatte. Klee selber hätte sehr gut als Araber gelten können. Er trug damals einen schütteren Vollbart und sah einen aus dem kleinen Kopf mit großen braunen Augen an. Hätte er einen Burnus getragen, so wäre er in Nordafrika unter den Eingeborenen nicht als Fremder aufgefallen. In München trug er einen fremdartigen Fez aus Astrachanpelz.

Klee lebte mit seiner Frau und einem Sohn damals in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er verkaufte sehr wenig und zu lächerlich geringen Preisen. Der Lebensunterhalt der kleinen Familie wurde durch die Klavierstunden bestritten, die Frau Klee gab. Klee selber war übrigens hochmusikalisch und spielte Geige.

Im Jahre 1920 hatte ich beschlossen, mich ganz der Malerei zu widmen, und ich bat Klee, mir doch Stunden zu geben. Sonderbarerweise lehnte er das damals ab und sagte lächelnd, daß er nicht unterrichten könne.

Ich sage sonderbarerweise, denn 1921 wurde Klee als Lehrer an das Bauhaus in Weimar berufen, wo er dann mehrere Jahre lehrte. Es sind viele Schüler aus seiner Klasse hervorgegangen, aber keiner, der seine Lehre in irgendeiner originellen und persönlichen Weise weiterentwickelt hätte.

In diesen Jahren am Bauhaus besuchte ich Klee sehr oft in seiner Wohnung oder in seinem Atelier. Abends wurde zu Hause musiziert. Oft spielte nur Frau Klee, und er selber saß rauchend und versonnen, während er auf kleine Papierstücke allerhand zeichnete und kritzelte. Diese kleinen Notizen wurden dann im Atelier verwertet. Übrigens ein sonderbares Atelier: an Leinen aufgespannt hingen allerhand Leinwände oder Papiere zum Trocknen, und überall aufgestellt waren fertige oder halbfertige Arbeiten, an denen Klee dann herumkratzte oder spachtelte.

Klee blieb mehrere Jahre am Bauhaus als Lehrer: erst in Weimar, dann in Dessau. Von dort wurde er als Professor an die Akademie Düsseldorf berufen, wo er aber nicht lange bleiben konnte, da er im Jahre 1933 fristlos entlassen wurde. So verließ er Deutschland und ging nach Bern, wo er als Deutscher geboren war – Klee war nie Schweizer – und starb dort im Jahre 1940.

Wenden wir uns jetzt dem Werk von Paul Klee zu. Was ist sein Verdienst und welche Stellung hat er in der Kunstentwicklung unserer Epoche?

Klee hat als erster Dinge, die bisher nicht in den Bereich der Kunst gehörten, so verwandelt, daß sie zu Kunstwerken wurden. Ich meine hier, daß er Elemente, die wir in Kinderzeichnungen, Wandkritzeleien, Zeichnungen primitiver Menschen und Völker finden, mit der zauberischen Macht seiner Persönlichkeit so verwandelt hat, daß sie hohe künstlerische Gebilde wurden. Er hat Symbole, Traumbilder, Formen des Mikrokosmos zu Bildern gestaltet.

Aber er hat auch ganz gegenstandslose Bilder, Experimente aus Farbenklängen und ganz geometrische Formen gemalt. Seine Formate sind in der Regel klein, und es gibt nur ganz wenige größere Bilder von ihm. Aber innerhalb dieser kleinen Bildformate, welch unerhörter Reichtum.

Es gibt wohl kaum einen Maler, der so wie Klee fast alle formalen Möglichkeiten und farbigen Kombinationen ausgeschöpft hat. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb er keine Schüler bilden konnte, denn er hat bereits alles vorweggenommen, und seine Schüler können ihn eigentlich nur imitieren.

Wegen des Reichtums seines Gestaltungsvermögens wird er auch von den verschiedensten Kunstrichtungen in Anspruch genommen: die Surrealisten rechnen ihn zu ihrem Vertreter, aber auch die Primitiven oder die Abstrakten und Puristen nehmen Klee für sich in Anspruch. Was noch zu dem Reichtum seiner Formenwelt und seiner Farbkombinationen hinzukommt, ist bei Klee die völlig neue Behandlung der Materie und der Bildoberfläche, die von einem kühnen Reichtum ist und Möglichkeiten zeigt, wie man sie bis dahin in der Malerei nicht ahnte.

Klee benutzte außer den verschiedensten Papieren Leinwand, Seide, Gaze, alte Zeitungen, glatte, rauhe, grob gespachtelte Pappen. Er trug Gips auf grobe Stickereigaze auf und ließ sich durch die sonderbarsten Materialreize anregen.

Ich erinnere mich, daß er einmal, nachdem der mit dem Spachtel aufgetragene Gips auf einer großen Gaze getrocknet war, entdeckte, daß auf der Rückseite der Gips durch die Gaze gedrungen war und lauter kleine Perlenreliefs gebildet hatte. Das regte ihn zu einem seiner entzückendsten Bilder an: ganz in matten rosa Tönen gemalt, nannte er es: Das Tontuch der Sängerin Rosa Gilber.

Klee war überhaupt für Anregungen ungewöhnlich empfänglich: ein Stück eines alten Stoffes, ein Liniengewirr, aber auch Bilder zeitgenössischer Maler, Picassos, Kandinskys, Marcs, Delaunays, konnten ihn so interessieren, daß er, wenn er sie gesehen hatte, versuchte, ähnliche Probleme zu lösen. Nur, daß sie eben durch die Kraft seiner Persönlichkeit verwandelt wurden und echte Klees ergaben.

Bekannt ist ja auch, daß er durch seine kurze Reise nach Tunis 1914, die er mit den Malern Macke und Molliet unternahm, die ganz großen entscheidenden Anregungen für seine Formensprache bekommen hat.

Jedenfalls erinnere ich mich, daß in seinem Schlafzimmer in München zwei Bilder hingen, die ich damals für Klees hielt. Als ich ihn einmal danach fragte – mir fiel auf, daß sie im Format größer waren als seine üblichen Arbeiten – erzählte er mir, daß er sie in Tunis gekauft habe und daß es Bilder primitiver eingeborener Araber seien. Alle diese Eindrücke wurden von Klee aber geistig so verarbeitet, daß sie völlig sein Eigentum wurden und von ihm gesehen ganz neue Erlebnisse werden konnten.

Während seiner Bauhauszeit leitete Klee eine Weile die Webereiwerkstatt. Die Arbeit in der Weberei kam seiner eigenen Tätigkeit sehr entgegen und interessierte ihn so, daß wir in vielen seiner Bilder aus dieser Epoche Erinnerungen an Webereien spüren, das Durcheinander von Kette und punktartigen Mustern, Webereistrukturen und Ähnliches.

Über die Art, wie er diese Eindrücke verarbeitete, hat Klee sehr oft in zwanglosen Reden und in seinen Kollegs in Weimar gesprochen. 1925 gab das Bauhaus sein „Pädagogisches Skizzenbuch“ heraus, in welchem ein Teil seiner Theorien und seines Lehrsystems fixiert ist. Er spricht hier über das Wesen der Linie, über geometrische Formen, ihre Beziehungen zueinander, über Dynamik, Rhythmus, Perspektive, Ordnungen usw., und wir sehen daß sein Werk, so spontan und ursprünglich es entsteht, doch tief durchdacht und geistig fundiert ist. Theorie und Konstruieren sind wichtige Dinge seines Unterrichts. Sie dienen der Verständlichmachung künstlerischer Grundfragen. Aber sie sind noch nicht Kunst. Die Kunst beginnt erst beim Geheimnisvollen – dem, was eben nicht zu erklären oder zu beweisen ist. Intuition ist nicht zu ersetzen.

Was man von Klees Bildern eigentlich kam glauben würde: für Klee war die Natur, das intensive Naturstudium, ungemein wichtig. Er sammelte Pflanzen und trug sie in sein Atelier, wo er es liebte, sich mit frischen und getrockneten Pflanzen zu umgeben, mit Steinen, Käfern, Muscheln, Zweigen, Rindenstücken.

Nur durch eine geistige Durchdringung und sehr intensive Beschäftigung mit der Natur, die dann in seine Bilder übergeht und ihnen inneres Leben verleiht, entgeht Klee der großen Gefahr, daß seine Arbeiten ins Dekorative abgleiten, und nie artete er in leeren, intellektuellen Formalismus aus, sondern immer ist es menschlich belebt und vor allem immer von lyrischer Poesie beseelt, zu der es eigentlich nur eine Parallele in der Geschichte der deutschen Kunst gibt: in der Romantik. Mit ihr verbindet Klee sein Sinn für Naturpoesie, die Welt des Märchens, den Mond, den Zauber der Nacht.

Darum waren für keinen Maler vor Klee die Titel seiner Bilder so wichtig, wie für diesen Künstler. Jedes seiner liebevoll gestalteten und erlebten Werke hat einen langen, überlegten Titel – sie alle lesen sich wie Gedichte – auch ohne daß man die dazugehörigen Bilder kennt, enthüllen sie vor unseren Augen eine Welt. Er war nicht nur Maler, sondern auch ein großer Theoretiker; seine Gedanken über Kunst hat er auch in kleinen Abhandlungen dargelegt. Und seine Stunden, die er am Bauhaus gab, waren völlig der abstrakten Theorie gewidmet. Er konnte lange über die Natur des Schwarz zum Beispiel sprechen, oder über äußeres und inneres Leben. Alles dies wurde bei ihm aber nie leeres Theoretisieren, sondern war immer von tiefer Menschlichkeit und Poesie erfüllt.

In: Max Peiffer Watenphul. Werkverzeichnis. Bd. II. Hg. von Grace Watenphul Pasqualucci und Alessandra Pasqualucci, Köln 1993.


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