Grace Watenphul Pasqualucci

Erinnerungen an meinen Bruder Max Peiffer Watenphul

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Die ersten Erinnerungen an meinen Bruder Max stammen aus dem Jahre 1917. Ma, wie ich ihn nannte, trug Uniform, er stand in Mülheim am Fenster einer großen Kaserne, winkte und lächelte mir zu. Damals war ich vier Jahre alt. Später kam er vom Bauhaus zu Besuch nach Hause und brachte viele Freunde mit, die mir tiefen Eindruck machten: eine Frau (Vally Neumann, die mit ihm den Vorkurs von Itten am Bauhaus besuchte) saß auf unserer Terrasse inmitten vieler Farbentöpfe, sie batikte, ich sehe noch ihre Ponyfrisur mit kurzen Haaren, die damals ungewöhnlich waren.

Mein Bruder aquarellierte und dichtete, saß viel am Klavier und sang (Kindertotenlieder von Mahler). Malte er an der Staffelei, so durfte ich zusehen, wie kleine steife Bilder entstanden, die wenige verstanden. Oft malte er unsere Mutter, deren Profil mit der Hochfrisur auf einigen Frühbildern zu sehen ist.

Zu Weihnachten bastelte mein Bruder mir eine Puppenstube, und eine Studienfreundin batikte mein erstes Kleid mit einer Blume, die sie entwarf.

1924 fuhr mein Bruder nach Mexiko. Als er im Februar 1925 zurückkam, brachte er einen Stapel Ölbilder mit. Er und sein Freund, der Schriftsteller Pferdekamp, trugen Knickerbocker, die damals in Europa noch nicht bekannt waren, die Kinder in Hattingen liefen den beiden lachend nach. In Hattingen wohnten meine Eltern in einem reizenden kleinen Haus, das einen großen Garten hatte. Dieser Garten war die Freude meines Bruders und hat seine Malerei wesentlich beeinflußt. Er arbeitete gerne an den Obstbäumen oder im Erdbeerbeet, vor allem aber pflanzte er die schönsten Blumen und pflegte sie. Die Blumenbilder der dreißiger Jahre zeigen die Blumen dieses Gartens und die Stilleben die Vasen unseres Elternhauses.

Max bewohnte zwei Zimmer zur Gartenseite, in seinem Atelier mischte sich der köstliche Geruch der Farben mit dem Duft der großen Blumensträuße, die er malte. Das Atelier hatte schöne alte Stühle und Teppiche, die er in Paris gekauft hatte, sie verbrannten später bei einem Bombenangriff auf Krefeld. Morgens früh stand er an der Staffelei, und es entstanden die Bilder, die heute so geschätzt werden. Oft malte er täglich ein Ölbild, abends trug er es vor sein Bett, um es lange zu betrachten, eine Gewohnheit, die er sein ganzes Leben beibehielt.

Die Leinwand bereitete mein Bruder immer selbst vor, auch das sein ganzes Leben lang. Wir machten in der Hattinger Zeit selbst Rahmen, er formte die Verzierungen, und ich durfte sie vergolden, später machte er die Rahmen farbig passend zum Bild. Natürlich kaufte er in Italien alte Rahmen oft sehr billig, sein scharfes Auge sah sofort das wertvolle Stück. In den Hattinger Jahren interessierte sich mein Bruder für Fotografie, als Stipendiat der Villa Massimo machte er Fotos von Rom, die noch heute publiziert werden.

Den Winter verlebte Max immer im Süden, wir waren an seine großen Reisen gewöhnt. Er schrieb dann viele Briefe nach Hause und immer liebevolle Kartengrüße an die kleine Schwester. War er in Hattingen, so fuhr er oft nach Paris, wo er mit bedeutenden französischen Malern befreundet war, oder er reiste nach Berlin, das er wegen seiner Theater und Kabaretts liebte. Er war ein Kosmopolit im wahrsten Sinne des Wortes, las in mehreren Sprachen und schrieb viel auf einer kleinen Schreibmaschine an seine Freunde in der ganzen Welt.

War er zuhause, so waren immer Gäste da, Maler, Dichter, Sammler, Namen, die heute berühmt sind. Die Unterhaltung bei Tisch war sehr interessant, die ausländischen Freunde meines Bruders wurden nur still, wenn die schweren Schritte der SA widerhallten, die draußen am Hause vorbeimarschierten.

Mein Bruder stand jeder Politik fern und vor allem dem Nationalsozialismus, und er schrieb das ungehemmt an seine Freunde. Eines Tages kam ein Postbeamter zu meinem Vater: »Die Post von ihrem ältesten Sohn wird überwacht«; er rettete ihm das Leben. Daraufhin verließ mein Bruder Deutschland. Er ging nach Ischia, wo schon ein Kreis deutscher Künstler lebte. Dort war er glücklich, er konnte leben, wie er wollte, malen, kochen (er war ein begeisterter Koch) und seine Freunde sehen. In dieser heiteren Atmosphäre entstanden die schönen südlichen Landschaften, die ihn bekannt machten. Er aquarellierte an Ort und Stelle, stets hatte er Papier und Bleistift in der Tasche, um Skizzen zu machen. Von seinen Reisen brachte er immer ein Skizzenbuch mit, oft auch kleine Zettel mit Skizzen für ein Bild. Aber erst in seinem Zimmer, im Schutz der gewohnten Umgebung, malte er dann das Ölbild, das er schon geistig in sich trug.

Nach Ischia war er lange in Cefalù auf Sizilien, dort blieb er auch im Sommer, bei größter Hitze schlug er sich in nasse Leinentücher ein, um die ungewohnten Temperaturen zu ertragen. Aber er konnte frei malen, so wie er wollte, während in Deutschland seine Bilder als »entartete Kunst« aus den Museen entfernt wurden. Im April 1941 ging er aus materiellen Gründen nach Deutschland zurück, nach Krefeld, wo er eine Lehrtätigkeit an der Textilfachschule annahm. In Krefeld hatte mein Bruder eine sehr schöne Wohnung bei einer alten Dame. Bei einem Besuch verbrannte ich den Schleiflacktisch, auf dem ich mir ein Kleid bügelte, die alte Dame war entsetzt, aber Max sagte zu mir: »Reg dich nicht auf, bald verbrennt ja hier alles.«

Als sein Atelier in Krefeld in Flammen aufging, verlor er viele Bilder und seine schönen französischen Möbel.

Das Jahr 1943 sah ihn wieder in Salzburg, wo er einem Ruf als Lehrer an die Kunstgewerbeschule folgte. Salzburg war seine zweite Heimat, er liebte diese Stadt über alles. In seiner Jugend hatte er Monate dort gelebt und viel von der österreichischen Geistesform angenommen, jetzt aber war Krieg, die Schwere der Zeit und die völlige Abgeschiedenheit von seiner Familie lasteten auf ihm.

Er malte viele Ölbilder und Aquarelle und sah Salzburg in einer Weise wie noch nie ein Maler zuvor. Die Landschaft und die Stadt regten ihn an, aber es war ein ernstes Salzburg, die Kuppeln und Türme sind verhängt mit grauen Wolken.

Da er nach Kriegsende als Deutscher keinen Paß bekommen konnte, trafen meine Mutter und ich ihn zu einem traurigen Wiedersehen alle paar Monate am Brenner, er durfte dann nach einer Fahrt von 36 Stunden eine Stunde mit uns sprechen. Schließlich ließ die Sehnsucht nach dem Süden und nach seiner Familie den körperlich zarten Mann ohne Papiere zu Fuß über den Brenner gehen, in einer eisigen Nacht. Das Unternehmen war sehr gefährlich, und viele der Menschen, die es versuchten, kamen nie an ihrem Bestimmungsort an. Noch im Alter sprach mein Bruder mit Grauen von dieser Nacht.

Bei uns in Venedig richtete sich mein Bruder in einem kleinen Zimmer neben dem der Mutter ein, die schon seit Kriegsanfang bei uns lebte und nun endlich den geliebten Sohn wieder in ihrer Nähe hatte.

Das gute Verhältnis zu meinem Mann, unter dessen Dach er Zuflucht gefunden hatte, erleichterte den Schritt nach Italien und blieb das ganze Leben der Halt des deutschen Künstlers in diesem Land. Auch im Alter kam er krank und müde nochmals in das Haus des Schwagers – nun nach Rom – zurück, um dort zu sterben.

Der Anfang in Venedig war für meinen Bruder nicht leicht. 1946 herrschte eine so eisige Kälte, daß die Lagune zufror, während die Heizmöglichkeiten begrenzt waren. Dazu dauerte es lange, bis er »sein« Venedig fand, streng, wie er in seiner Kunst war, zerstörte er am Anfang alles, was er malte.

Die dunklen Kanäle, die verfallenen Palastfassaden, das Glitzern der Markuskirche, die bunten Segel auf der Lagune, alles das faszinierte ihn, wurde aber erst langsam sein geistiges Eigentum. Er arbeitete wie besessen, sein Zimmer war so klein, daß seine Staffelei keinen Platz hatte, er malte auf einem Tisch, der allmählich von Farbflecken bedeckt war, eine Gewohnheit, die ihm bleiben sollte, er malte seitdem nicht mehr an der Staffelei. In seinem Zimmer häuften sich die Bilder, Käufer gab es ja keine. Es war ein großer Stapel mitten im Zimmer.

Meine Kinder, die er sehr liebte, kamen und liefen mit bloßen Füßen darüber, oft mußten sie bei ihm bleiben, und er zeichnete sie oder schrieb ihnen ein Gedicht in ihr Album mit Zeichnung dazu.

Eines Tages schlüpfte mein kleiner Sohn (vier Jahre alt) in sein Zimmer und machte mit schwarzer Farbe und einem Pinsel einen Strich mitten in ein Bild. Mein Bruder war außer sich, aber gütig, wie er war, kam er am nächsten Tag zu mir: »Grace, ich lasse den Strich, ich finde ihn sehr gut.«

In Venedig gingen wir fast jeden Morgen zusammen spazieren, wir schlenderten durch die engen Gassen an den kleinen Kanälen, um dann gegen zwölf Uhr am Markusplatz zu sein, wo die Sonne schien und ganz Venedig herumging. Manchmal entdeckte mein Bruder bei irgendeinem Althändler ein gutes Stück, das wir dann erhandelten.

Wir besorgten gemeinsam Farbe und Leinwand für ihn. Auch die Pappe der ersten Venedigbilder kauften wir zusammen in einem kleinen Geschäft in der Nähe der Calle Zotti. Weihnachten feierten wir nach deutscher Sitte. Meistens lag Schnee in Venedig, es war sehr winterlich und kalt. Mein Bruder schmückte den großen Baum. In den ersten Nachkriegsjahren machte Max viele Geschenke selbst, Ketten für mich, Fotoalben und Bücher für die Kinder.

Auch in der Küche betätigte er sich: buk und verzierte Torten und bereitete, um uns zu erfreuen, das berühmte »pollo ripieno« vor, das, kalt gegessen, ein sehr schweres, aber köstliches Gericht ist.

Nach Weihnachten begann die Opernsaison, die ich mit meinem Mann besuchte. Die Kleider – man ging damals noch in Abendkleidern – entwarf mein Bruder, er kaufte mit mir die Stoffe und suchte die Farben aus. Eine kleine Schneiderin nähte sie dann. Aber es waren die raffiniertesten Farben und meistens Chiffon, den er lang an mir herunterfließen ließ. Die Venezianer bewunderten diese Kleider sehr.

Langsam normalisierten sich die Zeiten, und es kamen wieder Menschen nach Venedig. Deutsche, die sich für Kunst interessierten, darunter seine alten Freunde. Die erste Biennale 1948, organisiert von Eberhard Hanfstaengl, zeigte seine Bilder in einem großen Raum; unser Haus in der Calle Zotti wurde wieder Treffpunkt vieler Künstler aus der ganzen Welt. Auch reisen konnte mein Bruder wieder (Tunis, Marokko), was für seine Malerei so wichtig war.

Er reiste mit ganz wenig Gepäck, schon damals ließ er sich aus Segeltuch leichte Taschen arbeiten, um sich freier bewegen zu können. Aber immer kam er gerne nach Venedig und zu seiner Familie zurück. Im Sommer hatten wir eine Kabine am Lido, mein Bruder badete und schwamm gerne, mit einem weißen Leinenhütchen auf dem Kopf blieb er dann lange vorne am Wassser und aß Muscheln, die er im Sand fand.

War Schirokko, litt er sehr, er lag im verdunkelten Zimmer und nahm Medizin, von der er immer einen großen Vorrat bei sich trug.

Museumsbesuche mit Max waren ungewöhnlich, er blieb nur vor Bildern stehen, die er für wichtig hielt.

Sein Geist war so kritisch, daß er zum Beispiel ein Kino nach zehn Minuten verließ, wenn ihm der Film nicht gefiel, unbekümmert um seine Begleitung. In die Venedig-Zeit fällt der Beginn der Beschäftigung mit Farblithographien, die ersten druckte er in Zürich. Später, als die Stadt Salzburg dem Künstler ein Atelier zur Verfügung stellte, druckte er seine Lithos auf der Presse der Residenz, ganz allein, nur ein Schüler, Herbert Breiter, half ihm. Als ich ihn dort einmal besuchte, hatte der sonst so elegante seinen Malkittel mit einem Bindfaden zusammengebunden.

Im Jahre 1958 konnten wir endlich unseren Wunsch erfüllen und nach Rom ziehen, mein Bruder in ein eigenes Atelier hoch über den Dächern der Piazza di Spagna. Von seiner Terrasse sah man die Pinien der Villa Borghese, dort malte er: Rom, Blumen, Sizilien, Griechenland. In seine Wohnung schien die Morgensonne, nie fehlten Anemonen oder Mimosen, seine Lieblingsblumen.

Mein Bruder war ein ausgezeichneter Unterhalter und seine Witze berühmt. Das Atelier wurde Treffpunkt der deutschen Geisteswelt. Große Reisen unterbrachen den römischen Aufenthalt: Libanon, Tunis, Marokko, Griechenland. In der kleinen Küche kochte er die sonderbarsten Gerichte. Seine Bilder malte er morgens früh, das Atelier wirkte wie eine Insel in dem römischen Trubel, kein Lärm drang dahin, nur die Musik der benachbarten Musikakademie S. Cecilia war zu hören.

Sein großes Vorbild war die Antike, in ihr lebte er und hörte nie auf, von ihr zu lernen.

Im Jahre 1963 erwarb mein Mann unser Landhaus »Il Pero« in der Toskana, aber mein Bruder kam immer nur für kurze Zeit, die Landschaft war ihm zu herb und zu wild, er zog Korfu und Süditalien vor, nur die Kapelle am Pero versah er mit Fresken, um mir eine Freude zu machen.

Im Jahre 1964 bekam er einen Ruf an die Sommerakademie in Salzburg, dieses Mal reiste er in Begleitung seiner Nichte Alessandra. Wie immer war mein Bruder in Salzburg sehr glücklich. Die Arbeit an der Sommerakademie interessierte ihn, weil er dort Schüler aus verschiedenen Ländern und sozialen Schichten unterrichtete. Auch in dieser Zeit entstanden Lithos, Aquarelle und Ölbilder.

Das wirklich Künstlerische an meinem Bruder war, daß ihn der weitere Weg eines von ihm fertiggestellten Bildes im Handel nicht mehr interessierte, das sagte er mir oft. Darum machte er in seiner Malerei nie Konzessionen oder folgte einer Mode, er war bewußt ein Einzelgänger.

So gütig er sonst war, wenn es um Kunst ging, wurde er unerbittlich, vernichtend in der Ablehnung, still in der Bewunderung. Seine schönen blauen Augen leuchteten, wenn er sich mit seinen Bildern beschäftigte, aber er liebte es nicht, darüber zu sprechen.

Er war von der Qualität seines Werkes überzeugt, und so bescheiden er lebte, so anspruchsvoll war er in seiner Malerei.

In: Max Peiffer Watenphul. Gemälde 1917–1969. Hg. vom Von der Heydt-Museum Wuppertal, Köln 1991.
© Grace Pasqualucci